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Eine Kurzbiografie von Tim D. Gronert

Der am 28. Juli 1883 als Sohn des Gummiwarenfabrikanten Simon Lurje und dessen Frau Regina, geb. Sojka, geborene Victor Lurje muß als Sonderfall des modernen Wiener Kunstgewerbes betrachtet werden. Seine außerordentliche Versatilität und die besondere Detailexaktheit, die er in den verschiedensten Handwerkstechniken an den Tag legte, machen ihn zu einem der interessantesten Kunsthandwerker des deutschsprachigen Raums in den 1910er und 20er Jahren. Zunächst als Architekt an der Technische Hochschule Wien bei Karl König ausgebildet arbeitete Lurje ab 1907 als freischaffender Kunstgewerbler in seiner Heimatstadt und nahm hier bald an wichtigen Ausstellungen teil (1908 an der Internationalen Baukunstausstellung, 1909 an der 1. Kunstschau und 1910/11 an der Winterausstellung des Museums für Kunst und Industrie, wo er mit Oskar Strnad u.a. den Gartensaal gestaltete). 1911/12 folgte ebendort die Mitarbeit an einem Schauraum, der gemeinsam mit seinen ehemaligen Studienkollegen Hugo Gorge, Oskar Strnad und Josef Frank konzipiert wurde. Lurjes technische Neu- oder Wiederentdeckungen und besondere Fertigkeiten auf dem Gebiet der Stucktechnik führten ihn 1912 nach Kassel, wo er für Architekt Theodor Fischer und Museumsdirektor Johannes Boehlau den Durchgang zum Antikensaal im Hessischen Landesmuseum dekorierte. Im Anschluß scheiterte eine durch Fischer vermittelte Berufung Lurjes an die durch Alfred Fischer neustrukturierte Essener Handwerker- und Kunstgewerbeschule am Ausbruch des Weltkriegs. Zuvor hatte sich der Künstler im Sommer 1914 noch erneut im Gespann mit Strnad und Frank an der Kölner Werkbundausstellung beteiligt: Hier gestaltete er den dreiseitig von Rundbogenarkaden abgeschlossenen und mit Wasserbasin und Brunnen geschmückten Hofes des Österreichischen Hauses. Bis 1918 leistete Lurje dann seinen Kriegsdienst in einem Baudepartements der k.k. Armee. Wohl schon vor dem Kriegsende begann er eine Entwurfstätigkeit für die Keramikfirma „Brüder Schwadron“, die für zahlreiche Wiener Häuser kunstvolle Baukeramik produzierte. Ab 1919 war er offiziell Mitarbeiter der Wiener Werkstätte und entwarf u.a. reliefierte Vasen, großformatige Keramikfiguren (auch hier wieder nach langem Studium der technischen Möglichkeiten und der Erfindung eines neuen Hohltechnikverfahrens mit dem Maler Eugen Steinhof) und Bronzearbeiten. Auch arbeitete er mit der Wiener Möbelfabrik Anton Pospischil, der Carl Bamberger AG und der Wienerberger Ziegelfabrik zusammen. Victor Lurjes künstlerisches Hauptaugenmerk galt nun aber insbesondere der jahrhundertealten Kunst der Holzintarsie, die er mit seinen Entwürfen zu neuem Leben erweckte. Auf der berühmten Kunstschau 1920 präsentierte er erstmals seine Holzarbeiten in Form von Intarsienbildern, großen Schmuckkassetten und mindestens einer Tischplatte. Noch bis 1921 lieferte Lurje besondere Einzelstücke für die WW, dann verlagerte er seinen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt nach Deutschland und forcierte eine enge Kooperation mit der Deutschen Werkstätten AG in Hellerau und München. Allerdings entstanden in der Anfangszeit auch Entwürfe für Kunstgläser, die bei J. & L. Lobmeyr, Wien ausgeführt wurden. Ein kurzer Lehrauftrag an der Kunstgewerbeschule Wien in der Klasse von Josef Hoffmann blieb Episode.

Neben den weiterhin gefragten intarsierten Einzelmöbeln übernahm Lurje in Deutschland nun vermehrt Aufträge zur Innenausstattung diverser Räumlichkeiten, wobei er bei diesen auf seine außergewöhnlichen Fähigkeiten als versatiler Kunsthandwerker in den verschiedensten Disziplinen zurückgreifen konnte. Zwischen 1922 und circa 1930 schuf Lurje für Hotels, Restaurants, Kauf- und Messehäuser – meist in Zusammenarbeit mit anderen namhaften Architekten wie Emil Fahrenkamp, Heinrich Straumer oder Wilhelm Kreis – Wandmalereien, groß- und kleinformatige Intarsien, bildhauerische Steinarbeiten, Baukeramiken und vergoldete Plastiken. Seine Auftraggeber fand Lurje in ganz Deutschland, Berlin wurde aber in den 1920er Jahren der Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens. Darüber hinaus beteiligte er sich an wichtigen internationalen Kunstgewerbeausstellungen: Deutsche Gewerbeschau München 1922, Exposition internationale des arts decoratifs et industriels modernes 1925 in Paris, Europäisches Kunstgewerbe 1927 in Leipzig.

Aus der Zeit nach 1929 sind keine großen innenarchitektonischen Aufträge Lurjes mehr bekannt. Mit der beginnenden Weltwirtschaftskrise waren die kostenintensiven Ausstattungen der Jahre zuvor nicht mehr zu realisieren. 1930 erhielt Lurje noch eine Einladung zur Gestaltung eines Gebäudes der Werkbundsiedlung 1930, das jedoch nicht ausgeführt wurde. Mit Sicherheit kann davon ausgegangen werden, daß die Lage des jüdischstämmigen Lurjes und seiner Frau Leopoldine nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland kontinuierlich schlechter wurde. Eine Rückkehr nach Österreich ist anzunehmen, da für die Weltausstellung in Paris 1937 eine Arbeit des Künstlers gesichert ist: für die Einrichtung des Wiener Kaffeehauses entstand ein Tisch mit Marketerie aus Perlmutt. Nach dem Anschluss Österreichs im Jahr darauf faßte das Paar wohl schnell den Entschluss zur Ausreise. Am 24. November 1938 erfolgte die Abmeldung aus Wien, der sich eine Flucht nach Shanghai anschloss. Über die dortigen Lebensumstände ist nichts bekannt. Anfang der 1940er Jahre ging das Paar nach Indien, wo Lurje in Jaipur an der Einrichtung des Palastes des örtlichen Maharadschas mitwirkte. Dort verstarb der vielseitige Künstler und technisch versierte Kunsthandwerker Victor Lurje am 5. Oktober 1944.

Victor Lurje, Schrank mit Intarsie, Wiener Werkstätte um 1920

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