Beschreibung
Victor Lurje, Holzkassette mit Intarsien, Wiener Werkstätte 1920
Victor Lurje für die Wiener Werkstätte 1920
Große Holzkassette mit Intarsien und Edelholzfurnier
Nussbaum, mit diversen Edelhölzern intarsiert und furniert
Entwurf: Victor Lurje für die Wiener Werkstätte 1920
Maße ca. 60 x 45 x 24,7 cm
Bezeichnung auf der Innenseite des Deckels „WW“ mit Datierung „ANNO 1920“;
Innen mit einem großen und vier kleinen Fächern, der Deckel des großen mit „VL“ monogrammiert
Die hier präsentierte, kunstvoll intarsierte Schmuckkassette ist ein höchst seltenes Belegexemplar der nur kurze Zeit währenden Zusammenarbeit des vielseitigen Künstlers und Kunsthandwerkers Victor Lurje mit der Künstlervereinigung Wiener Werkstätte aus der Zeit um 1920. Die ungewöhnlich groß gestaltete Schatulle illustriert sowohl die kunsthandwerkliche Meisterschaft der Wiener Werkstätte zu Beginn der 1920er Jahre als auch den außergewöhnlichen Ideenreichtum in erzählerischer und technischer Gestaltung des Künstlers Lurje. Dieser zeigt in seiner edlen Holzkassette narrative Inspiration aus der antiken Mythologie – die er künstlerisch in ein modern-zeitgenössisches Gewand kleidet –, gleichzeitig bekennt er sich zu der traditionsreichen Handwerkskunst der Intarsie, deren raffinierte Eigenheiten er unter Berücksichtigung jahrhundertealter Techniken materialgerecht herauszuarbeiten versteht.
Die Deckelintarsie zeigt eine antike Gottheit vor stilisierter Landschaft und ist HERME bezeichnet, ein Hinweis auf den griechischen Götterboten und Glücksbringer Hermes, der den Menschen den Willen der Götter nicht bloß überbringt sondern ihn erklärt und so Einsicht und Vernunft in die Welt bringt.
Auf der Innenseite des Deckels stehen sich ein nackter junger Mann und eine mit einem mittelalterlichen Kleid bekleidete, ein Papier haltende junge Frau gegenüber. Eine Taube mit Schleife im Schnabel, ein Kranz, zwei junge Rehe und diverse Pflanzen-, besonders Eichendekore verweisen auf das Themenfeld Liebe, Hochzeit, Ehe und Treue. Die Szene ist ANNO 1920 datiert und zeigt das Doppel-W-Signet der Wiener Werkstätte.
Das Innere der kleinen Truhe ist in drei Zonen unterteilt: ganz links eine längsseitig angelegte Box mit holzscharniertem Deckel, oben rechts ein in vier kleinere, jeweils mit Deckel versehene Fächer getrenntes Querabteil und eine Freifläche unten rechts, deren Bodenbild einen nackten Jüngling und ein junges Mädchen illustriert. Diese kleine Intarsie trägt die Bezeichnung EROS PSYCHE und wird von vegetabilen Voluten mit zentral angeordneten Blüten und Gefäßen umrankt. Mit dem Bezug auf das neben Shakespeares Romeo und Julia wohl bekannteste Liebespaar der Geschichte Amor und Psyche liefert Lurje einen weiteren Hinweis zur Verwendung des Kleinmöbels als Hochzeitsschatulle. In der Liebesgeschichte des Göttersohnes Amor und der sterblichen Königstochter Psyche spielt im Übrigen auch ein Kästchen eine besondere Rolle, das eigentlich für Amors Mutter Venus gedacht ist. Möglicherweise lieferte dieser Teil der Geschichte Victor Lurje die ursprüngliche Inspiration für den Entwurf der Holzkassette.
Der obere Innenrand des Kastens ist mit insgesamt 19 Bildchen von Blumen, Bäumen oder Büschen geschmückt. Der Deckel des längs abgetrennten Faches zeigt ein mit den Initialen des Entwerfers versehenes Rechteck, in welchem drei Roetten von Rankwerk umspielt werden. Das gesamte Motiv wird von 18 Quadern aus stilisiertem Mauerwerk umgeben. Die kleinen Deckel und die Außenwände des Innenbildes zeigen geometrische Muster, die zum Teil mit Perspektiven spielen.
Die Sockelzone, die sich über vier gedrückten Kugelfüßen mit mittigem Perlband erhebt, zeigt geschnitzte Sinnsprüche in lateinischer Sprache, die aus verschiedenen antiken Quellen stammen:
Vorne:
CARPE DIEM (Nutze den Tag, nach Horaz) und NE QUID NIMIS (Nichts im Übermaß, nach Publius Terentius Afer)
Links:
SIC VOLO, SIC JUBEO (So will ich es, so befehle ich es, nach Juvenal)
Rechts:
AUREA SATA PRIMA EST (Als erstes entstand das Goldene Zeitalter, nach Ovid)
Hinten:
NULLA DIES SINE LINEA (Kein Tag ohne eine Linie, nach Plinius, d.Ä.)
Ober- und Unterteil der Kassette sind mit kunstvoll geschmiedeten Messingscharnieren verbunden, die formidentisch auch an anderen Möbeln Victor Lurjes finden lassen.
Zu einer Kurzbiografie des Künstlers klicke hier.
Ausgestellt:
Wien, Kunstschau 1920, Juni–September, Abteilung IV: WIENER WERKSTÄTTE: 394. Holzkassette, intarsiert.[1]
Abgebildet in:
- Deutsche Kunst und Dekoration 48 (1921), Juli-Heft 1921, S. 185 (inneres Bodenbild Eros und Psyche), 190 (Gesamtbild Kassette mit Intarsien und Deckelintarsie Hermes) und 191 (Intarsie der Deckelinnenseite)
- Kunst und Kunsthandwerk 23 (1920), 7, 8, 9 and 10, S. 179 (Deckelintarsie Hermes) und 182 (Gesamtbild Holzkassette)
- MAK Wien: Inv. Nr. KI 9983-1 (Silbergelatineabzug)
Der Experte des Wiener Kunstgewerbes Ludwig Steinmetz berichtete von der epochalen Wiener Kunstschau 1920 über die hier vorgestellte Holzkassette:
Architekt Viktor Lurje […] verweist mit seinen Intarsien im strengen, archaisierenden Flächenstil nachdrücklich auf die klassische Art der Bekleidung geringeren Materiales durch das Mosaik edler Hölzer. Die Struktur des Faserzuges, der Maserung, der Nuancen-Reichtum der Furnieren (sic!) ergeben unerschöpfliche Kompositionsanregungen.[2] An anderer Stelle führte er aus: Das seriösere Gebiet des Holzflächenschmuckes hat Architekt Viktor Lurje erwählt, Intarsien, streng im Stil der frühen Renaissanceformen.[3]
Provenienz der Kassette:
Aus dem Nachlass von Prof. Dr. Max Wolf (1885–1976), dem berühmten Pionier der Enzymforschung:
Der 1885 in eine jüdische Wiener Kaufmannsfamilie geborene Max Wolf (1885 Wien –Bonn 1976) gilt als wichtigster Pionier der Enzymforschung.[4] Er war der erste Arzt, der Enzyme zu medizinischen Zwecken einsetzte. Seit 1930 konzentrierte Wolf seine Forschungen auf diese Behandlungsform, gründete in New York das Biological Research Institute und stellte die Biochemikerin Helen Benitez von der Columbia University ein. Gemeinsam entwickelten sie eine Kombination aus Enzymen, die entzündungshemmend wirken und degenerative Prozesse positiv beeinflussen können: Das „Wolf-Benitez-Enzymgemisch“, später kurz „WoBe-Enzyme“ genannt, erfreute sich bei Patienten rasch großer Beliebtheit, es bildete die Grundlage für das heutige Wobenzym.
Im Wien des beginnenden 20. Jahrhundert hatte Wolf zunächst Hoch- und Tiefbau studiert und als erfindungsreicher Ingenieur gearbeitet. Um 1910 erweiterte er sein künstlerisches Ouevre und malte u.a. Gemälde für den alten Kaiser Franz Joseph. Als während eines USA-Aufenthaltes im Sommer 1914 der Weltkrieg ausbrach, blieb Wolf in New York und begann ein Medizinstudium, dem sich im Laufe der Jahre sieben Doktortitel anschlossen. Schließlich führte er Praxen als Gynäkologe und HNO-Arzt, wurde Universitätsprofessor und war ständiger Arzt der Metropolitan Oper. Er kurierte Somerset Maughan von einem 14jährigen Malarialeiden und behandelte unzählige Prominente aus Politik, Kultur und Wirtschaft.[5] Von höchster Stelle erhielt Wolf sogar den Auftrag, “den Krebs zu erforschen und zu besiegen“.
In erster Ehe war Wolf 49 Jahre mit der ebenfalls aus Wien stammenden Pianistin Edith Berger (-Wolf) verheiratet, nach deren Tod heiratete er die deutschstämmige Margot Albert. Mit dieser kehrte er nach Europa zurück, wo er Ende der 1960er Jahre gemeinsam mit seinem engen Vertrauten Karl Ransberger in München 83jährig die bis heute wichtige „Medizinische Enzymforschungsgesellschaft“ gründete. Seinen Lebensabend verbrachte er in Untersulzbach im pfälzischen Lautertal, der Heimat seiner zweiten Frau. 1976 verstarb das Universalgenie Max Wolf in Bonn.
[1] Vgl. Katalog Kunstschau 1920, Wien 1920, S. 20.
[2] Ludwig Steinmetz, Wiener Kunstschau. Die Arbeiten der Wiener Werkstätte, in: Deutsche Kunst und Dekoration 47 (1920/21), Oktober/November 1920, 102.
[3] Ludwig Steinmetz, Kunstschau 1920, in: Kunst und Kunsthandwerk 23 (1920), 200.
[4] Vgl. die beiden Biografien: Michael Kirmes-Seitz und Astrid Bransky,, Der „Wunderdoktor“ von Manhattan – Aus dem Leben des jüdischen Universalgenies Max Wolf, Dresden 2016 und Karl Ransberger, Max Wolf – Ein Leben für die Enzymtherapie, Oldenburg 1994.
[5] In seinen Aufzeichnungen finden sich u.a. die Namen folgender Patienten: Harry S. Truman, Angehörige der Familien Kennedy, Vanderbilt und Rockefeller, Pablo Picasso, Greta Garbo, Marilyn Monroe, Charlie Chaplin, Marlene Dietrich, Gloria Swanson, Spencer Tracy, Bette Davis, Isidora Duncan, Olivia de Havilland etc.